EU stellt Gesetz über kritische Arzneimittel vor: Mehr Unabhängigkeit von Drittstaaten
Die Europäische Kommission hat am 11. März 2025 das Gesetz über kritische Arzneimittel vorgestellt, ein umfassendes Regelwerk, das die strategische Autonomie der EU im pharmazeutischen Sektor stärken soll. Die Initiative zielt darauf ab, die erhebliche Abhängigkeit Europas von Drittländern wie China und Indien bei der Produktion essenzieller Medikamente zu verringern und gleichzeitig die Versorgungssicherheit innerhalb der Europäischen Union zu verbessern.
Hintergrund: Lehren aus der Pandemie
Die COVID-19-Pandemie hat die Verwundbarkeit der europäischen Arzneimittelversorgung schonungslos offengelegt. Als Lieferketten unterbrochen wurden, sah sich Europa mit akuten Engpässen bei lebenswichtigen Medikamenten konfrontiert. Besonders alarmierend ist die Tatsache, dass nach Schätzungen der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) mehr als 80% der in Europa verwendeten Antibiotika-Wirkstoffe aus Asien stammen, wobei China und Indien die Hauptlieferanten darstellen.
"Die Pandemie hat uns eine schmerzhafte Lektion erteilt", erklärte die EU-Gesundheitskommissarin bei der Präsentation des Gesetzesentwurfs. "Wir können es uns nicht leisten, bei lebenswichtigen Medikamenten von wenigen Lieferanten außerhalb Europas abhängig zu sein."
Kernpunkte des neuen Gesetzes
Das Gesetz über kritische Arzneimittel umfasst mehrere Schlüsselkomponenten, die gemeinsam die europäische Arzneimittelproduktion und -versorgung neu gestalten sollen:
1. Diversifizierung der Lieferketten
Die EU plant eine signifikante Reduzierung der Abhängigkeit von einzelnen Regionen durch den Aufbau robusterer und diversifizierterer Lieferketten. Dies beinhaltet die Förderung von Produktionskapazitäten innerhalb Europas sowie die Erschließung alternativer Bezugsquellen in verschiedenen Weltregionen.
Die Kommission hat angekündigt, ein Frühwarnsystem zu etablieren, das potenzielle Versorgungsengpässe identifizieren und proaktive Maßnahmen ermöglichen soll, bevor kritische Situationen entstehen.
2. Förderung der lokalen Produktion
Ein zentrales Element des Gesetzes ist die Schaffung von Anreizen für Pharmaunternehmen, die Produktion kritischer Medikamente in die EU zu verlagern oder bestehende Kapazitäten auszubauen. Diese Anreize umfassen:
- Finanzielle Unterstützung in Form von Zuschüssen und zinsgünstigen Darlehen aus dem neu geschaffenen "European Health Emergency Preparedness and Response Authority" (HERA) Fonds
- Vereinfachte Genehmigungsverfahren für Produktionsanlagen, die kritische Arzneimittel herstellen
- Steuerliche Vorteile für Unternehmen, die in die europäische Produktion investieren
- Forschungsförderung für innovative Herstellungstechnologien, die die Effizienz und Nachhaltigkeit der Produktion verbessern
3. Neugestaltung der öffentlichen Beschaffung
Das Gesetz sieht eine grundlegende Änderung der Beschaffungskriterien für Arzneimittel vor. Während bisher der Preis oft das ausschlaggebende Kriterium bei der Vergabe öffentlicher Aufträge war, sollen künftig auch Faktoren wie Versorgungssicherheit, Umweltauswirkungen und Produktionsstandort berücksichtigt werden.
"Wir müssen wegkommen von der ausschließlichen Fokussierung auf den niedrigsten Preis", betonte die EU-Gesundheitskommissarin. "Versorgungssicherheit hat einen Wert, den wir in unseren Beschaffungsentscheidungen reflektieren müssen."
4. Liste kritischer Arzneimittel
Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) wird beauftragt, eine umfassende Liste kritischer Arzneimittel zu erstellen und regelmäßig zu aktualisieren. Diese Liste soll als Grundlage für gezielte Maßnahmen dienen und umfasst Medikamente, deren Verfügbarkeit für die öffentliche Gesundheit von wesentlicher Bedeutung ist.
Die Aufnahme eines Medikaments in diese Liste zieht besondere regulatorische Aufmerksamkeit nach sich, einschließlich verstärkter Überwachung der Lieferkette und Verpflichtungen für Hersteller zur Meldung potenzieller Versorgungsprobleme.
Bedeutung für Deutschland
Als einer der führenden Pharmaproduzenten Europas könnte Deutschland erheblich von diesem Gesetzesvorhaben profitieren. Die deutsche Pharmaindustrie, die für ihre hohen Qualitätsstandards und innovative Forschung bekannt ist, ist gut positioniert, um eine Schlüsselrolle bei der Relokalisierung der Produktion kritischer Arzneimittel zu spielen.
Der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) in Deutschland begrüßte die Initiative, betonte jedoch die Notwendigkeit, die richtige Balance zwischen Regulierung und Anreizen zu finden. "Die Stärkung der europäischen Produktion ist ein wichtiges Ziel, das wir unterstützen", erklärte der vfa-Präsident. "Allerdings müssen die Rahmenbedingungen so gestaltet sein, dass sie Investitionen fördern und nicht hemmen."
Die Bundesregierung hat ihre Unterstützung für das Gesetz signalisiert und gleichzeitig angekündigt, zusätzliche nationale Maßnahmen zu prüfen, um den Pharmastandort Deutschland weiter zu stärken. Das Bundesministerium für Gesundheit arbeitet bereits an einem ergänzenden Programm zur Förderung der Produktion kritischer Arzneimittel in Deutschland.
Reaktionen und Ausblick
Die Reaktionen auf den Gesetzesentwurf fielen weitgehend positiv aus. Patientenverbände begrüßten die Initiative als wichtigen Schritt zur Sicherstellung der Medikamentenversorgung. Die europäische Pharmaindustrie signalisierte grundsätzliche Unterstützung, mahnte jedoch an, dass die Umsetzung praxistauglich gestaltet werden müsse.
Kritische Stimmen kamen vor allem von Generika-Herstellern, die befürchten, dass erhöhte Anforderungen an die Produktion in Europa die Preise in die Höhe treiben könnten. Sie fordern ausreichende Übergangsfristen und finanzielle Unterstützung, um die Verlagerung der Produktion wirtschaftlich tragfähig zu gestalten.
Das Gesetz über kritische Arzneimittel muss nun den legislativen Prozess durchlaufen. Es wird erwartet, dass das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union in den kommenden Monaten darüber beraten werden. Bei einer zügigen Verabschiedung könnte das Gesetz bereits Anfang 2026 in Kraft treten.
Die EU-Kommission betont, dass die Initiative Teil einer breiteren Strategie zur Stärkung der strategischen Autonomie Europas in kritischen Sektoren ist. Neben der Pharmaindustrie umfasst diese Strategie auch andere Bereiche wie Halbleiter, Batterietechnologie und erneuerbare Energien.
Der Erfolg des Gesetzes wird letztlich davon abhängen, wie effektiv die vorgeschlagenen Maßnahmen die strukturellen Probleme der europäischen Arzneimittelversorgung adressieren und inwieweit sie dazu beitragen, eine resilientere und unabhängigere Pharmabranche in Europa zu schaffen.